Passion. Herzblut. Begeisterung.
KURZGESCHICHTEN
An dieser Stelle erwarten sie Auszüge und Kurzgeschichten, die bereits erschienen sind oder kurz vor einer Veröffentlichung stehen. Eines ist allen gemein: Meine Passion für Kurzgeschichten , Herzblut fürs Schreiben und die Begeisterung für Menschen und deren Geschichten.
MONDSCHEINKÖNIGIN MINNA
»Die größten, vollsten, schönsten Kohlköpfe haben sechseinhalb Kilo gewogen«, schwärmt Minna Plückhahn. Sie lächelt und streicht beinahe liebevoll über das Bild, das am rechten Rand eine kleine Knitterfalte hat. Es zeigt Weißkohlköpfe, aufgetürmt zu einem großen Kegel, der auf rotsandigem Boden steht. Sie blättert eine Seite weiter in dem schweren Fotoalbum und das ausgeblichene Bild einer Gruppe Ureinwohner kommt zum Vorschein, die lachend um den Weißkohlberg tanzt. Das Blutdruckmessgerät noch um den Arm geschnallt, erzählt sie ihrem Nachbarn von ihren Ernte-Erfolgen in Namibia, als sei es erst gestern gewesen. »Ach, meine Maarifa!« Minna seufzt und zeigt dem jungen Mann die Aufnahme einer runzligen Frau, die einen ledernden Lendenschurz trägt und deren Körper von Kopf bis Fuß mit roter Paste eingerieben ist. »Diese Paste schützt vor der sengenden Hitze und vor lästigen Insekten, wissen Sie.« Die Haare der Frau auf dem Bild rahmen als hochgestapelte, gedrehte Lehmzöpfchen das schöne Gesicht ein. Opulente farbenfrohe Bänder, Amulette und Ketten um Hals, Arm- und Fußgelenke schmücken die Stammesälteste Maarifa mit den sanften Augen, deren Name so viel bedeutet wie »durch Erfahrung weise geworden«, wie Minna Plückhahn erklärt. Der junge Mann sitzt neben ihr auf dem Sofa und Minna bemerkt , wie geduldig und gleichermaßen erstaunt er auf die Dokumente aus längst vergangener Zeit und einer anderen Welt schaut. »Wissen Sie was? Rehema hat sich damals ebenso rührend um mich gekümmert wie Sie heute, Herr Hoffmann.« Pure Dankbarkeit schwingt mit beim liebevollen Streichen über den Oberarm des Nachbarn, der inzwischen Minnas Hand hält. Minna sieht Rehema, den Barmherzigen, Sanura, das Kätzchen und Orma, den freien Mann regelrecht vor sich, als sie von ihnen berichtet und davon, dass sie alle dem »roten Volk der Halbnomaden« angehören. »Sie haben mich immer ›Maanligkoningin‹, also Mondscheinkönigin genannt.« Minnas Stimme klingt dabei zitternd, fast zerbrechlich. Plötzlich schlägt ihr Puls schneller und allmählich füllen sich ihre taubenblauen Augen mit Tränen. »Meine Zeit bei den Himba in Namibia war die schönste Zeit meines Lebens.« »Jetzt nehmen Sie erst mal die Tablette. Ich hole ein Glas Wasser«, beruhigt Herr Hoffmann die sichtlich emotional aufgewühlte Dame. »Dass ich Ihnen aber auch immer solche Umstände machen muss«, ruft Minna dem jungen Mann beschämt in die Küche nach. Falk Hoffmann war gerade erst aus der Nachtschicht gekommen, hatte seine Notfallsanitäter-Dienstkleidung noch nicht abgelegt, als Minna zaghaft an seine Wohnungstür klopfte. Sie teilen sich seit zwei Jahren eine Etage in dem sechsgeschossigen Wohnblock in Rangsdorf, nahe Berlin. Die neunundachtzigjährige Witwe mit dem schlohweißen Haar mag den sportlichen, jungen Mann, der gerade mal Ende zwanzig ist. Herr Hoffmann ist immer hilfsbereit. Er bringt für die betagte Dame das Altpapier raus, trägt den Einkauf in die Wohnung und hält hier und da einen Plausch mit ihr. Außerdem hat er Frau Plückhahn schon ein paar Mal aus der Bredouille geholfen, etwa als sie neulich mehrere Stunden nach einem Sturz hilflos am Boden lag. Heute hat, Gott sei Dank, nur der Kreislauf ein bisschen schlappgemacht. »Jetzt ruhen Sie sich aber gut aus, Frau Plückhahn. Ich schaue später nochmals bei Ihnen rein und dann müssen Sie mir unbedingt mehr von Ihrer Reise nach Afrika erzählen.« Damit verabschiedet sich Herr Hoffmann nach nebenan. Wann war Frau Plückhahn wohl in Namibia gewesen und vor allem warum? Hmm, Mondscheinkönigin, irgendetwas Majestätisches hat sie ja schon an sich, die Nachbarin, überlegt er, während er ins Bett steigt. Brrr, Weißkohl, Falk schüttelt es kurz, dann schläft er ein. Gegen Spätnachmittag klingelt es an seiner Tür. Die kleine Minna Plückhahn trägt ein viel zu langes ockerfarbenes Kleid mit Elefanten und Giraffen darauf. Sie hat ein buntes Tuch zu einem Turban geschlungen, der das weiße Haar verdeckt, und hält ihm fröhlich eine kleine Schüssel schwenkend unter die Nase. »Jetzt sieht sie aber schon ein bisschen verkleidet aus«, denkt Falk Hoffmann und schmunzelt innerlich über den Auftritt der kleinen Frau in großem afrikanischen Aufzug. »Es geht mir schon viel besser. Als Dankeschön für Ihre Hilfe habe ich afrikanische Speisen zubereitet und lade Sie zum Essen ein. Sie wollten doch mehr über meine Reise wissen? Also das ist Oshifima«, deutet die offensichtlich glückliche Nachbarin mit dem Zeigefinger Richtung Schale. »Oshi… was?«, Falk ist noch müde, zieht leicht die Stirn kraus beim Anblick des grauen Hirsebreis und versichert, dass er bereits gegessen habe, was natürlich nicht stimmt. Überhaupt fühlt er sich überrumpelt von der afrikanischen Kochaktion der agilen Seniorin ...
Geschmackserinnerung
An tristen, wolkenverhangenen Regentagen wollen manche Menschen bewusst dem Schwermut, der hinter der Wohnungstür der eigenen vier Wände lauert, entfliehen. Sie wollen nicht alleine sein. Sich und ihr Leben nicht verstecken. Um nicht vergessen zu werden. So, wie ein alter Schirm womöglich, der erst dann vermisst wird, wenn es in Strömen regnet. „Entschuldigung, sind bei Ihnen Hunde erlaubt?“, fragt eine freundliche Stimme achtungsvoll. Im Eingangsbereich des Cafés steht ein gut gekleideter, schlanker Herr mit weißer Meckifrisur und erwartungsvollem Blick hinter beschlagener Brille. Regentropfen perlen langsam von seiner dunkelblauen Allwetterjacke ab, direkt auf den Schmutzfangteppich. Ich blicke an der mitgeführten Leine entlang und schon haben sie mich inspiziert, die beiden schwarzen Knopfaugen des West Highland White Terriers. Sie wissen schon, so ein possierlicher, weißer Kumpel, der einst durch Hundefutterwerbung in der Flimmerkiste große Bekanntheit erlangte. „Wenn der Vierbeiner so freundlich ist, wie das Herrchen, dann herzlich willkommen“, entgegne ich augenzwinkernd dem neuen Gast. „Mein Hund hat nur noch einen Zahn und ist mindestens genauso wenig gefährlich wie ich“, scherzt der gutgelaunte Mann, der sich in aller Ruhe umschaut und schließlich zufrieden einen Platz in der kuscheligen Sofa-Ecke einnimmt. Seine Wahl fällt auf einen großen Cappuccino. Der vierbeinige Geselle hat es sich inzwischen unter dem Sofa gemütlich gemacht und bei genauem Hinhören ist ein ganz leises Schnarchen zu vernehmen. „Ich wusste gar nicht, dass es das Krönchen gibt. Großes Kompliment, es ist sehr schön hier bei Ihnen im Café“, lobt der rüstige Ruheständler und gönnt sich noch eine Weißweinschorle. Er bejaht die Frage, ob er denn aus dem Kleinstädtchen stamme, aber fügt mit bedrückter Stimme an: „Wissen Sie, meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben und ich bin seither zwar mit meinem Hund Gassi, aber nicht mehr viel unter die Menschen gegangen. Manchmal fällt einem da schon die Decke auf den Kopf.“ Es prasselt der Regen an die bodentiefen Fensterscheiben und der Himmel verdunkelt sich immer weiter. „Aber das ändern wir ja ab heute“, fordere ich ihn ein bisschen keck heraus, um die Stimmung ein wenig aufzuhellen. Und da huscht es wieder über sein Gesicht, das sanfte Lächeln. „So, dann werde ich mich mal wieder raus in das Hundewetter begeben“, kündigt der weißhaarige Senior an. Dann steht er auf, schaut sich im Café mit den vielen Zeitzeugen längst vergangener Tage ausgiebig um, wirft noch einen anerkennenden Blick in die Kuchentheke und wir plaudern noch ein wenig über dies und das. „Ich komme ganz sicher wieder“, verabschiedet sich der Witwer und ich bin mir eines baldigen Wiedersehens gewiss. Man hört schon von weitem das Tapsen der weißen Pfötchen auf dem Holzimitatboden und tatsächlich, nur wenige Tage später sind Hund und Herrchen erneut zu Besuch im neuen Lieblingscafé. Ein Schälchen Wasser für die Fellnase, erst einen Cappuccino und dann eine Weinschorle für den Senior. So geht es ein ums andere Mal, wenn das Herzensgespann zu Gast ist. Einen netten Plausch gibt’s natürlich immer gratis obendrein. So staune ich nicht schlecht, als er mir eines Tages beispielsweise sein Alter verrät. „Ach wissen Sie, ich habe in meinen 80 Lebensjahren schon etliches erlebt!“ Wie bitte? 80 Jahre? Dabei könnte der immer sportlich-apart gekleidete Charmeur glatt für einen sich gut gehaltenen Mann Ende 60 durchgehen. Höchstens. „Alles wie immer?“, frage ich den Stammgast. „Nicht ganz!“, entgegnet er mir. Heute nehme er zu seinem Getränk noch einen kleinen, süßen Snack, verkündet er vergnüglich. „Sehr gerne“, freue ich mich wie immer über seinen Besuch. „Mmhhh, wie das duftet“, gibt sich der Senior schon beim Wohlgeruch des kleinen Gebäckstückes ganz entzückt. Dann der erste zaghafte Bissen in das noch warme Butterhefezöpfchen. Es stürzt ihn augenblicklich, mit voller Wucht in einen Strudel aus Emotion und Erinnerung. Die sonst so voller Schalk steckenden Augen füllen sich unkontrolliert mit Tränen. Lebhaft erinnert er sich offensichtlich an ein Ereignis aus seinen Kindheitstagen. Ein wenig besorgt frage ich nach, ob alles in Ordnung ist. Er deutet mir an, doch kurz bei ihm am Tisch Platz zu nehmen. Dann beginnt er mit dem Gebäckstückchen in seiner Hand zu erzählen: „Das schmeckt ganz, ganz, ganz genau so, wie der Butterhefezopf, den meine Mutter aus dem Paket auspackte, das aus Amerika geschickt wurde. Und das war das beste Stück Butterhefezopf meines ganzen Lebens.“ Die Augen beginnen zu funkeln und ich kann sein Glücksgefühl unmittelbar spüren. Er fährt fort: „Wissen Sie, ich wurde mitten im Zweiten Weltkrieg geboren. Es waren harte Zeiten. Als ich ein ganz kleiner Bub war, musste ich täglich mehrere Kilometer zur Schule laufen. Auch im Hungerwinter 1946/1947. Die Lebensmittelversorgung war selbst hier im ländlichen Raum nahezu zusammengebrochen. Es war ein Tag kurz vor Weihnachten 1946, der Schnee lag meterhoch und die Sohlen meiner Lederschuhe hatten sich bereits vollständig vom Schaft gelöst. Ich machte mich gleich nach der Schule auf den beschwerlichen Heimweg. Als ich endlich, vor Kälte zitternd, zu Hause ankam, hat mich meine Mutter sofort in eine wärmende Decke gepackt und meine blau gefrorenen Zehen, die ich kaum noch spürte, in einen Eimer mit warmem Wasser gesteckt. Die Stube war dabei erfüllt von köstlichem Duft. Dann öffnete sie die emaillebeschichtete Ofentür und holte einen warmen Butterhefezopf aus dem Backrohr. Sie schnitt mir ein großes Stück davon ab und während meine Füße im warmen Wasser baumelten, genoss ich das herzerwärmende Gebäck als leckerste Mahlzeit meines bis dahin kurzen Lebens. Es schenkte mir die wärmste Empfindung in diesem kalten Winter. Mein Onkel lebte in Amerika und schickte uns zu Weihnachten eben in diesem Jahr neues Leder, für neue Schuhe und besagten Butterhefezopf, der dann von meiner Mutter an diesem klirrend kalten Tag schon vor dem Fest aufgebacken wurde.“ Inzwischen läuft mir eine Träne über die Wange, weil mich die Geschmackserinnerung des erfahrenen Mannes so anrührt. Es war ein magischer Moment, als der Herr von diesem Sinneseindruck aus Geruch und Geschmack des kleinen Butterhefezöpfchens im Café überwältigt wurde. „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie mich daran erinnert haben. Es ist so lange her, dass ich an diesen Tag zurückdachte“, verabschiedet sich später der betagte Mann mit beseeltem Blick. Für das geschilderte Erlebnis hat die Gedächtniswissenschaft einen Namen: Sie nennt diese urplötzliche, emotionale Reise zurück in die Kindheit und Jugend das „Proust-Phänomen“. Der französische Schriftsteller Marcel Proust, der von 1871 bis 1922 lebte, hat es in seinem siebenbändigen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nämlich bereits in Worte gefasst: „In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog.“ Der Protagonist tunkt ein Stück „Petite Madeleine“ in einen Tee. Als er das durchtränkte Gebäck isst, tauchen unmittelbar verloren geglaubte Kindheitserinnerungen wieder auf. Wissenschaftler erklären das wie folgt: Wenn wir etwas sehen, fühlen, schmecken oder hören, werden diese Eindrücke zunächst vom Thalamus, dem größten Teil den Zwischenhirns, geprüft, ehe sie in die Hirnrinde wandern. Im Gegensatz zu allen anderen Sinnen, wird der Geruch hingegen unmittelbar an das limbische System, das in der Nähe des Riechkolbens sitzt, weitergeleitet und sorgt hier direkt für Reaktionen. In dieser Funktionseinheit des Gehirns werden übrigens auch die Emotionen verarbeitet. Gerüche haben also eine größere Chance im Gedächtnis zu bleiben, weil sie sich sozusagen mit Gefühlen verbinden. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns den „Proust-Effekt“ schon mehrfach erlebt hat. Wenn eine Geruchs-Geschmacks-Erinnerung aus der Vergangenheit plötzlich so lebendig erscheint, als habe man sie erst gestern erlebt. Es ist ein sonniger Sommertag. Ich komme fröhlich singend aus der Schule. „Tschüss Damiro, tschüss Anita!“, rufe ich meinen Freunden zu, die eine Straße vorher abbiegen. Nur noch schnaufend den „Wieselsberg“ bis etwa zur Hälfte hinauf und endlich bin ich zu Hause angekommen. Ich nehme die Abkürzung über den Hof, direkt auf unsere Küchenterrasse. Wie erwartet steht die Terrassentür offen, und wie immer verheddere ich mich beim Eintreten in dem dekorativen 70er Jahre-Vorhang mit seinen 36 bunten Plastikstreifen. Es duftet vorzüglich nach angebratenem Kartoffelbrei, Apfelmus, sowie Zimt und Zucker. Plinsen nannten meine Eltern das Gericht, das aus Schlesien stammt. Schwupp, sitze ich schon erwartungsvoll in der maisgelb gestrichenen Küche am gedeckten Tisch, den eine rot gemusterte Wachstischdecke ziert. Lustige Früchte hängen als beschwerende Elemente an den Tischtuchklammern. Die obligatorische Kanne mit kaltem Hagebuttentee steht ebenfalls parat, wie jeden Tag. Als sich die ganze Familie endlich zum Mittagessen versammelt, kann ich aufgeregt freudig berichten: „Ich habe heute einen Giraffenstempel bekommen“, sprudelt es aus meinem mit Plinsen vollgestopftem Mund heraus. Eine schöne Belohnung für die Hausaufgaben aus dem Grundschullehrbuch „Lesen lernen mit Habakuk. „Und wie sieht es mit dem Zeugnis aus?“, will meine Mutter wissen. Ich springe auf, renne in mein Zimmer und präsentiere die graue Mappe. Das Zeugnis war mit schwarzer Tinte von meiner Lehrerin Frau Buchta von Hand geschrieben worden. Die Eltern lesen lächelnd, was da schwarz auf weiß geschrieben steht. Mein Vater nestelt an seinem Hemd herum und zieht eine kleine silberne, fünfzig Pfennig Münze aus der Hemdtasche. Er legt sie neben meinen Teller, zwinkert mir zu und sagt: „Nachher gehen wir zusammen ein Eis essen.“ Wenige Wochen später ist mein Vater kurz vor seinem 55. Geburtstag gestorben. Wenn ich heute für meine eigene Familie Plinsen brate, dann bin ich jedes Mal – zack – wieder neun Jahre alt und schmecke diesen sonnigen Sommertag meiner Kindheit. Wie einen lebendig gewordenen Eintrag ins Poesiealbum. Hach, es war so schön, als noch soviel Zukunft und so wenig Vergangenheit war. © Marion Peters
Die Wellenbrecherin
Niemand hat mich darauf vorbereitet. Auf das Aufbrausen, das Toben und Tosen, auf das mich Verschlingen. Ich ertrinke immer wieder. Auch nach Jahren und Jahrzehnten. Zeit heilt alle Wunden? Mitnichten. Zeit macht erträglicher, ergebener, aber Zeit vergisst nicht und lässt auch nicht vergessen. Als du mir das Schwimmen beigebracht hast - weißt du noch, an diesem idyllisch gelegenen Weiher - konntest du nicht ahnen, dass nach den ersten zaghaften Zügen meine Königsdisziplin einmal Wellenbrechen heißen wird. Trauerwellen brechen. Immer und immer wieder. Kein Rettungsring in Sicht. Allenfalls ohnmächtiges Aushalten. Mal kommen sie zärtlich verkleidet angeplätschert und spülen sanft Erinnerungen ins Gemüt. Doch alles schwankt und wankt. Nichts ist mehr im Gleichgewicht. Einzig die Sehnsucht nach den kleinen Wellen auf der Weiher-Oberfläche beim Steine flitschen bleibt. Dann krachen sie plötzlich voller Wucht ans Lebensufer. Sie spucken mir ihre Gischt aus nie mehr nachholbaren Augenblicken und verpasster Liebe vor die Füße. Eine Erkenntnis, die schmerzt und es dauert, bis sie wieder abflacht. Ich rudere wie wild gegen die Welle, bis ich wieder mit ihr schwimmen kann. Ich fühle mich ausgezehrt. Dann wiege ich mich in den Wogen und fürchte doch die Kraft der Brandung. „Kopf hoch, Mäuschen!“, hast du mir in Kindheitstagen zugeflüstert, wenn es mir mal nicht so gut ging. „Kopf hoch!“, wenn die nächste Wellenflut anrollt, immer in der Hoffnung, darin nicht eines Tages ganz unterzugehen. Ich bleibe der Fels, der die Welle bricht. Doch messe ich Wellen nicht in Höhen, sondern immer in der Angst vor der nächsten ... © Marion Peters
Gegenüber
Kann sie nicht einmal aussprechen, was sie wirklich denkt? Nein, sie beißt sich lieber auf die Zähne, ballt ihre Hand in der Jackentasche zu einer Faust und setzt zeitgleich ihr freundlichstes Gesicht auf. Das unsichere Kichern, lässt sie unbedarft, immer heiter und naiv erscheinen. Du Versagerin! Nicht mal das bekommst du hin. Schau dich doch an: Du bist schwach und ich verachte dich für deine Ohnmacht! So wird das nie etwas mit deinem Vorhaben. Ihr Gedankentornado wirbelt schneller und schneller und die unaufhörlich kreischenden Emotionen werden von einem höhnischen Lachen in ihrem Kopf dumpf untermalt. Sie krümmt sich und hält sich die Ohren zu. Die Gedanken tosen weiter. Oh, wie ihr ihre Gutmenschen-Attitüde und die gekünstelte Fröhlichkeit den letzten Nerv und den Schlaf rauben. Einmal nur Stärke zeigen. Gefasst, aufrecht und konsequent. Nicht mehr das farb- und konturlose, kümmerliche Hascherl sein. Morgen wird sie ihrem Gegenüber entschlossen entgegentreten! Sie wird Schluss machen. Schluss mit der Angst. Schluss mit den Demütigungen. Schluss mit den Selbstzweifeln. Ja, Morgen wird sie stark genug sein, es endgültig zu beenden. Ganz bestimmt. Das hat sie sich fest vorgenommen. Wieder einmal. Tränen der Verzweiflung schießen ihr in die Augen. Ihre Hände zittern einem Erdbeben gleich. Rote Stressflecken bilden sich an ihrem Hals. Sie nimmt rasch ein Tuch und reibt zornig die Wasserspritzer vom Badezimmerspiegel. Dann bricht ein emotionaler Orkan aus ihr heraus und sie brüllt: „Verschwinde! Los, verschwinde endlich! Lass mich in Ruhe!“ Sie schlägt wild um sich. Doch ihr Gegenüber, das Spiegelbild, lächelt nur ... © Marion Peters
Das große Los
Noch nie in ihrem Leben hat sie etwas gewonnen. Jedes gekaufte Los auf dem Jahrmarkt schreit ihr in fünf fiesen Buchstaben „Niete“ ins Gesicht. Jede Ziffer auf dem Lottoschein lacht höhnisch: „Knapp vorbei ist auch daneben.“ Jede weitere Wette bringt sie nicht nur um einen hohen Einsatz, sondern dem Abgrund ein Stück näher. Heute hält sie einen amtlichen Brief in den Händen. „Notariat Schweigler“ ist als Absender vermerkt. Vorsichtig und gleichzeitig ein bisschen ängstlich öffnet sie das Kuvert und traut ihren Augen kaum. Eine Freudenträne kullert über ihre Wange. Sie umklammert das Papier fest mit beiden Händen, liest noch einmal hastig und macht einen Freudensprung in die Luft. „Ich habe geerbt“, murmelt sie und tanzt vor Glück im Kreis. Ein ihr unbekannter Onkel hat ihr eine Hütte in der Uckermark vermacht. Wenige Wochen später kommt sie vollbepackt an dem kleinen Blockhaus an. Ihre ersten Gedanken: „Ich Glückspilz! Keine nervenden Nachbarn weit und breit. Ade Räumungsklage, ade Geldsorgen.“ „Hübsch hier!“, stellt sie glücklich fest. Sie zieht die schweren, rotkarierten Gardinen auf und freut sich an der Aussicht auf eine unendlich weite Landschaft, die noch von Schnee überzuckert ist. Dann pustet sie grob den Staub vom Stubentisch. „Brr, frisch hier!“ Den kleinen Gasofen dreht sie auf die höchste Stufe und mummelt sich auf dem Chaiselongue unter die mitgebrachte Federbettdecke. Plötzlich wird ihr schummrig. Sie schließt die Augen. „Niemals hätte ich gedacht, dass erben und sterben nur zwei Konsonanten voneinander entfernt liegen!“ Bewusstlos liegt sie da, ehe das Kohlenmonoxid leise ihre Lebensflamme auslöscht. © Marion Peters
Die Zeit
„Das ist einfach nicht wahr, du lügst, keine Wunde heilt!“ Hanni stampft wütend auf. Sie hasst das Gefühl, wenn ihr die Zornesröte ins Gesicht steigt. „Ach Hanni, wie kann ich dir nur beweisen, dass du falsch liegst?“ „Dann erkläre mir doch mal bitte, warum du immer davonläufst?“ „Ich laufe nie davon. Warum willst du das nicht sehen?“ „Hör bloß auf! Permanent versuchst du die Menschen einzulullen. Aber nicht mit mir!“ Hanni zieht mit einem trotzigen Ruck an dem Holzstuhl und setzt sich an den Küchentisch. Sie hält die Teetasse mit beiden Händen so fest, dass sich die Haut um die Fingerknöchel weiß verfärbt. „Wo bist du denn, wenn man dich wirklich braucht?“, bohrt Hanni nach. „Na, bei dir. Jeden Tag, den du erwachst und sogar darüber hinaus. Das verspreche ich dir!“ „Pah, auf deine leeren Versprechungen kann ich verzichten!“ Plötzlich hört Hanni ein verzweifeltes Schluchzen. „Weißt du noch? Im vergangenen Sommer in deinem Urlaub, da wolltest du mich totschlagen. Im Herbst hast du dann beteuert, ich sei mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Meistens behauptest du jedoch, ich würde davonlaufen. Nichts von alldem ist wahr, hörst du!“ „Aber das war doch nie so gemeint. Was ist denn wahr?“ Hanni laufen Tränen über die Wangen. „Wahr ist, dass ich die einzige Konstante in deinem Leben bin. Deine Blütezeit zu jeder Zeit. Nicht dein Feind, sondern deine Freundin. Eintausendvierhundertvierzig Minuten an jedem Tag. Ein Geschenk für dich und alle Menschen, für das sich meistens nicht bedankt wird! Ich bin die Zeit.“ ©Marion Peters
Der Zylinder
Caspar dreht die Flamme der Petroleumlampe größer und bürstet sorgsam, Strich für Strich, den weichen Biberhaarflaum zu Filz. Da beginnen seine Hände zu zittern. Wieder einmal. Er kann kaum mehr die Bürste halten. Der Quecksilberschleier, der die Filzmasse geschmeidig hält, brennt in seinen Augen. Die wasserdampfgeschwängerte Luft zieht ihm fast spürbar die Falten aus seinem weißen Hemd, das er heute trägt. „Auch wenn die Marktleute tuscheln, ich bin kein verrückter Hutmacher!“ Caspar beugt sich nach vorne, holt wutentbrannt aus und fegt mit seiner Armbeuge den schweren, buche-hölzernen Hutspanner nebst kleinen Gerätschaften von der Werkbank. Plötzlich huscht ein großer Schatten über die Wand. Jetzt tanzt er auf der gegenüberliegenden Seite. „Nein, du bekommst mich nicht! Du nicht, Dämon!“ Mit aufgerissenen Augen verfolgt Caspar das Schattenspiel. Er setzt zum Fangsprung an, doch sein rechtes Bein lahmt. Rasch dreht er die Flamme der Lampe aus, hinkt über den knarzigen Dielenboden zur Tür und streift sich seinen schwarzen Frackrock mit den trapezförmig angebrachten, silberseidigen Knöpfen über. Er nimmt seinen besten Zylinder vom Haken und hält kurz inne. Sanft lächelnd streicht Caspar die Krempe entlang. Sieben Monde lang hatte er an dieser vornehmen Kopfbedeckung aus feinstem Kaninchenfell gearbeitet. „Heute ist ein guter Tag, ihn auszuführen!“ Seine innere Stimme klingt entschlossen. Caspar setzt den Zylinder auf, nimmt seinen Spazierstock und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Am nächsten Morgen entdecken spielende Kinder den Frack sorgfältig zusammengelegt am Ufer auf einem großen Stein liegen. Kurz darauf treibt der Zylinder auf dem Fluss an ihnen vorbei. © Marion Peters